Mooshausen Medien » MM Guardini - Sonntagsblatt-25-2018


Die Welt mit Hilfe des christlichen Glaubens deuten

Romano Guardini prägte das europäische Geschehen im 20. Jahrhundert und pflegte eine enge Verbindung nach Oberschwaben

Beitrag von Pfarrer Marc Grießer, Seelsorgeeinheit Alpenblick

Erschienen in „Katholisches Sonntagsblatt, 25/2018“

» Seite im Original-Layout aus „Katholisches Sonntagsblatt, 25/2018“ (PDF)

 

Mit freundlicher Genehmigung unseres Mitglieds und Beirats Pfarrer Marc Grießer und vom Katholischen Sonntagsblatt.

 

Schneller, höher, weiter — dieser olympische Dreischritt hat in der Kirche zurzeit eine ganz besondere Bedeutung: immer schneller werden die Kirchen noch leerer, immer höher die Austrittszahlen, trotzdem immer weiter wie bisher? Es ist nicht einfach, in diesen Zeiten Hoffnung zu wecken, wenn innerkirchliche Gespräche oft nur aus Fragen bestehen wie: Wie viele seid ihr noch, wie viele kommen noch . . . ? Immer das „Noch“. Auf der Suche nach einem Lichtblick in solch trüber Umgebung bin ich einst dem Denken eines Mannes begegnet, der den meisten wahrscheinlich bestenfalls noch dem Namen nach bekannt ist: dem Theologen Romano Guardini. Das Pfarrhaus im Dorf Mooshausen (Gemeinde Aitrach, Kreis Ravensburg) am Rande unserer Diözese weist auf ihn hin. Hier fand er während des Zweiten Weltkriegs Zuflucht. Der 1993 gegründete „Freundeskreis Mooshausen“ bewahrt bis heute die Erinnerung an ihn (mooshausen.de). In den 50er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts füllte Guardini die größten Hörsäle — und das nicht nur mit Theologen, sondern mit Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft. Ganz ohne auf Alleinunterhalter zu machen — man stelle sich das heute vor —, allein um der Sache willen zog er die Menschen an. Welche Sache? Die Grundfragen des Menschseins: Was ist der Mensch? Wie soll er leben? Was leitet ihn? Na ja, damals ging das vielleicht noch, wendet mancher wohl beim Lesen ein. Ja, vielleicht, aber die glorreichen Zeiten, in denen alle Christen waren und es die Kirche ganz leicht hatte, existieren wohl auch nur im verklärenden Rückblick auf die Vergangenheit. Guardini zog Menschen bereits unmittelbar nach dem Krieg an, als alles zerbombt war und man gut verstehen würde, dass die Menschen andere Sorgen hatten . . . aber sie kamen, um ihn zu hören: in Ulm, in Stuttgart, in Ravensburg und Memmingen. Wer war dieser Mann?

Wie der Name schon andeutet, ist Romano Guardini gebürtiger Italiener. Am 17.2.1885 in Verona geboren, kommt er jedoch bereits als Kleinkind nach Mainz, wo der Vater eine Niederlassung der Familienfirma leitet. Nach dem Abitur beginnt er ein Chemie- und dann ein Nationalökonomiestudium, beide bricht er ab. Er gerät in eine Lebenskrise, sein Glaube, den er zu Hause auf ganz selbstverständliche, unspektakuläre Weise gelernt hat, entgleitet ihm. Guardini berichtet aus dieser Zeit von einem besonderen Erlebnis. Es war ihm, als halte er sein Leben in der Hand, was soll er tun? Da erschließt sich ihm die Bedeutung eines Wortes aus dem Evangelium. Wer sein Leben gibt, der wird es gewinnen. Doch wem soll er geben? Gott? Das bliebe eine Spielerei, zu wenig konkret. Christus? Wahrscheinlich ginge es dann nur um sein eigenes Christusbild. Dieses Geben des eigenen Lebens kann sich nur in der Kirche vollziehen, auch in ihrer Unvollkommenheit ist sie diejenige, die immer wieder an die Quellen zurückführt: die Heilige Schrift und die lebendige Tradition des Glaubens in zwei Jahrtausenden. Guardini entschließt sich, Priester zu werden. 1906-1908 studiert er u.a. in Tübingen. Dort erfährt sein Leben eine entscheidende Prägung, er lernt seinen lebenslang besten Freund, Josef Weiger, einen Priesteramtskandidaten aus Leutkirch kennen. 1910 wird Guardini zum Priester der Diözese Mainz geweiht. Er promoviert 1915 über den heiligen Bonaventura, einen Theologen des Mittelalters, der sein Denken nachhaltig prägt. Mit seinem Buch „Vom Geist der Liturgie“ wird er 1918 einer größeren Öffentlichkeit bekannt. Das Buch wird zu einer der Initialzündungen der Liturgischen Bewegung, die schließlich in die Liturgie-Reform des Zweiten Vatikanischen Konzils mündet. 1920 kommt Guardini erstmals mit dem Quickborn in Berührung, dem katholischen Teil der damals so starken Jugendbewegung. Auf Burg Rothenfels, die dem Quickborn gehört, findet er einen seiner wichtigsten Wirkungsorte als prägende Gestalt der katholischen Jugend. Sein Einfluss auf die jungen Menschen, denen er begegnet, kann wohl kaum überschätzt werden. Viele berichten über seine stille, zurückhaltende Art, die gerade auf diese Weise sehr eindringlich gewesen sein muss. Er fordert und fördert die Jugendlichen, stärkt sie zum Leben und zum Engagement in Kirche und Gesellschaft. 1923 wird er Professor für Katholische Weltanschauung und Religionsphilosophie in Berlin. Was soll das sein? Das hat er sich auch gefragt. Der preußische Staat, dem nach dem Ende der Monarchie die einigende Klammer fehlt, möchte die preußischen Katholiken irgendwie integrieren. So schafft er solche Professuren — ohne genau zu wissen, was das sein soll. Für Guardini wird diese Offenheit zum Glücksfall. Er entwickelt sein eigenes Konzept: die christliche Weltanschauungslehre. Es geht darum, die Welt anzuschauen, sie mit Hilfe des christlichen Glaubens zu deuten. Guardini bewegt und zieht an — auch und gerade, als die Nationalsozialisten die Macht übernehmen. Guardini darf weiterarbeiten — wahrscheinlich auch, weil seine Gedanken so grundsätzlich sind, dass die neuen Machthaber ihre Gefährlichkeit zunächst nicht erkennen. Doch gerade deshalb vermag er, Menschen in ganz tiefer Weise gegen das Regime einzunehmen. Auch die Widerstandsgruppe der „Weißen Rose“ beschäftigt sich mit seinem Denken. 1939 verliert er seinen Lehrstuhl, Burg Rothenfels wird geschlossen. Er zieht sich 1943 ins Pfarrhaus seines Freundes Weiger in Mooshausen zurück. Dort ist für ihn Heimat — auch durch die Freundschaft der Haushälterin Weigers, Maria Knoepfler aus Wangen im Allgäu, die Texte des Theologen John Henry Newman übersetzte und so ihren eigenen Platz in der Geistesgeschichte hat. 1945 wird er an die Universität Tübingen gerufen, 1948 schließlich nach München. Sein Lehrstuhl heißt hier wie dort: Christliche Weltanschauung und Religionsphilosophie. In der Kirche St. Ludwig in München wird Guardini zu einem gefragten Prediger. 1952 erhält er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, um nur eine seiner zahlreichen Auszeichnungen zu erwähnen. 1962 tritt er in den Ruhestand. Die letzten Jahre seines Lebens sind von Krankheit und Einschränkungen geprägt. Am 1.10. 1968 stirbt er. Seit 1997 sind seine sterblichen Überreste in St. Ludwig bestattet. Kardinal Marx eröffnet im Dezember 2017 in München den Seligsprechungsprozess für ihn.

Was bleibt von diesem Mann? Es bleibt seine eindringliche Gestalt, es bleibt sein Werk, beispielsweise „Der Herr“, eine gut lesbare Betrachtung der Evangelien, es bleibt auch seine Methode: christliche Weltanschauungslehre. Guardini nimmt „Weltanschauung“ wörtlich, nicht im Sinne voreingenommenen, parteiischen Schauens, sondern im Sinne genauen, konzentrierten Hinsehens. Was erkenne ich? Das ist schwieriger, als es klingt — gerade heute, da wir von Bildern mehr und mehr überflutet werden, von Meinungen und Kommentaren, von Zahlen und Fakten, die immer schneller verfügbar sind und vielleicht auch deshalb bestritten werden. Guardini lehrt genaues Hinsehen, um das Leben zu deuten. Immer wieder beweist er seine Meisterschaft im Aufschlüsseln dessen, was ist, und er zeigt, dass der christliche Glaube jene Deutung ist, die trägt, und erschließt so die Grundbegriffe des Glaubens. Das ist eine Vorschule des Glaubens, wie wir sie heute brauchen — in Anlehnung an Guardinis Buch „Vorschule des Betens“. Mitten in den Diskussionen, wie sie unsere Kirche gerade erschüttern, sollten wir an sein Wort „Die Wahrheit ist polyphon“, also mehrstimmig, denken. Wahrheit ist kein fertiger Block, der vom Himmel fällt, aber auch kein Chamäleon, das je nach Zeitgeist andere Gestalt annimmt. Es kommt nicht darauf an, ein Auge zuzudrücken, sondern genau hinzuschauen, was Wahrheit ist, sie ist lebendig und nicht einfach ein Regelwerk — so wenig wie eine Partitur einfach dasselbe ist wie ein Musikstück. Alles Lebendige — so Guardini — ist aus Gegensätzen gebaut, die sich in Spannung halten, sich tragen, ohne zusammenfallen zu können. Ich bin überzeugt: Guardini ist der Lehrer des Glaubens für das 21. Jahrhundert.