Mooshausen Medien » Romano Guardini - Gedanken zum Advent


Den Mitgliedern des Freundeskreises Mooshausen e.V. zum 1. Advent 2015.

Der Text wurde entnommen den Betrachtungen von Romano Guardini „NÄHE DES HERRN“, Würzburg 1960.

Mit dem heutigen Sonntag beginnt der Advent. — Überall begegnen wir seinem Symbol, dem Kranz; in allen Formen, kleinen und großen, bescheidenen und prunkvollen, und wir fragen uns unwillkürlich, was jene, die ihn schenken oder empfangen oder in ihren Woh­nungen anbringen, sich wohl dabei denken. Manch einer wahrscheinlich gar nichts; er sieht in ihm nur einen hübschen Brauch und macht ihn eben mit. Er ist ja auch wirklich schön, der grüne Kranz mit den roten Lichtern, dem Tannenduft und den ihn umgebenden Erinnerun­gen … Andere empfinden einen Hauch des Geheimnis­ses. Der dunkle Winter, die brennenden Kerzen, deren Zahl von Sonntag zu Sonntag wächst und auf eine Er­füllung zugeht — alles das berührt sie mit einer Ahnung von etwas Heilig-Lebendigem. Das ist schon mehr, aber es genügt noch nicht … Was bedeutet also der Kranz? Er ist ein Symbol für die Zeit, die nach dem Fall des ersten Menschen vergehen mußte, bis der Erlöser kam. Er spricht vom »adventus Domini«, der »Ankunft des Herrn«, und mahnt, sich auf diese Ankunft zu bereiten. Im Kranz stehen vier Kerzen: vier Sonntage, vier Jahr­tausende des Wartens. Die Vierzahl ist aber selbst wie­der symbolisch. Wir begegnen ihr in der Heiligen Schrift oft; sie meint ein großes Maß. So bedeuten die vier Jahrtausende eine sehr lange Zeit; Paläontologie und Frühgeschichte belehren uns, wie lange sie gewährt hat. Vom Warten durch den endlosen Gang dieser Zeit reden die vier Kerzen. An jedem Sonntag wird eine mehr an­gezündet und spricht: wieder ein Dunkel vorbei — bis alle vier brennen, die »Fülle der Zeit« im Licht steht, und Weihnachten ist da.

Die Menschen haben gewartet, und der Erlöser ist ge­kommen. Beides, das Warten wie das Kommen, ist also gewesen. Von hierher betrachtet, sagen die Kerzen nur : Denk an das lange Harren durch die dunklen Zeiten und an das leuchtende Geschehen vor neunzehneinhalb Jahrhunderten. Freue Dich, der heiligen Ankunft und sei dankbar … Sagt der Advent aber nur das?

Gewiß nicht. Die Feste der Kirche erinnern wohl an Vergangenes, sie sind aber auch Gegenwart, lebendiger Vollzug; denn was einmal in der Geschichte geschehen ist, soll sich im Leben des Glaubenden immer wieder ereignen. Damals ist der Herr gekommen, für Alle; Er muß aber immer neu kommen, für Jeden. Jeder von uns soll das Warten, jeder die Ankunft des Herrn erfahren, damit ihm daraus das Heil werde. Wenn wir das so hören, kommt uns vielleicht der Ge­danke: Was im Leben wichtig ist, muß ich doch selbst finden! Es muß aus meinem eigenen Leisten und Kämp­fen hervorgehen. So muß auch das Heil Sache meines eigenen Ernstes und meiner Bemühung sein. Was soll da das Warten auf Einen, der von anderswoher kommt?

Das wäre ab en nicht richtig gedacht. Gewiß muß ich, was mein Eigenstes angeht, selbst wollen und leisten; doch wäre das nicht alles und nicht einmal das Entschei­dende.

Was gibt es Wichtigeres, als daß ich in meinem Leben den Freund finde? Ein Freund ist einer, der nicht nur an sich denkt, sondern auch an mich; dem daran liegt, daß es mit mir richtig werde. Etwas Großes und Kost­bares ist also ein Freund. Kann ich ihn mir aber selbst schaffen? Gewiß nicht! Oder ihn mir irgendwo holen? Doch ebensowenig. Ich kann empfänglich und wachsam sein, damit ich es merke, wenn ein Mensch mir nahe­kommt, der für mich wichtig werden kann — aber er muß kommen! Herkommen aus dem unabsehbaren Raum des menschlichen Lebens. Bei irgendeiner Gelegenheit be­gegnen wir einander, kommen ins Gespräch, und dann entwickelt sich jenes Fruchtbar-Schöne, das man Freundschaft nennt …

So ist es auch mit der Liebe. Der Mann bedarf der Frau, die ihm Gefährtin, und die Frau des Mannes, der ihr Heimat sein könne, damit sie dann mit einander jene lebendige Welt schaffen, die Familie und Haus heißt —kann aber der Eine sich den Anderen herstellen? Aber­mals nicht. Er kann ihn suchen; aber Suchen heißt Ab­sichten haben, und wie leicht verdirbt die Absicht alles. Nein, sondern der Andere muß kommen, aus der Weite der Welt, aus der Vielzahl der Menschen, irgendwann einmal auf ihn zu …

Wenn wir uns genau besinnen, dann ist es mit unserem Beruf, unserer Lebensarbeit, unserer Stellung im Gan­zen des Daseins ähnlich. Manches davon können wir erringen — Anderes aber und nicht Unwichtiges muß sich aus den Fügungen des Lebens ergeben. Die Mög­lichkeit muß sich öffnen; ich muß sehen: hier, jetzt — und dann zugreifen. Wohl bin dann ich selbst es, der zugreift und leistet, aber die Möglichkeit vorher hat sich mir aufgetan …

Vieles, Wichtiges, Entscheidendes ruht auf Fügungen und Begegnungen, die ich nicht selbst habe machen, mit eigener Kraft erzwingen können. Sie sind gekommen, haben sich mir gegeben.

Auf einem Kommen ruht auch unser Heil. Den, der es wirkt, den Erlöser, haben die Menschen nicht selbst er­denken noch hervorbringen können; Er ist aus dem Ge­heimnis von Gottes Freiheit zu ihnen gekommen. Wie oft haben sie es versucht! In allen Völkern erscheinen uns Heilbringergestalten, die aus dem Erlebnis der Da­seinsnot hervorgegangen sind. Sie tragen die Züge der Griechen und Römer, Inder und Germanen und verkör­pern in ihrem Bild, was ihr Volk und ihre Zeit unter Heil verstanden haben. Weil sie aber aus der Welt gebo­ren worden, haben sie die Welt nicht ins Freie führen können; und weil sie aus dem Stoff der Zeit gebildet sind, sind sie mit ihr vergangen.

Der wirkliche Erlöser ist aus der Freiheit Gottes gekommen: in ein kleines Volk, das wohl kein Rat der Völker gewählt haben würde; in eine Zeit, die niemand als die richtige erweisen könnte; in eine Gestalt, angesichts derer uns, wenn es uns gelingt, die Gewohnheit abzu­streifen, das Staunen befällt: warum gerade in diese? So besteht die Entscheidung des Glaubens zu einem guten Teil darin, die eigenen Maßstäbe des Richtigen und An­sprechenden wegzutun und den aus Gottes Freiheit Hertretenden aufzunehmen: »Hoch gelobt, der da kommt im Namen des Herrn!« (Mt 21,9)

Das sagt uns der Advent. jedes Jahr mahnt er uns, das Wunder dieses Kommens zu bedenken. Erinnert uns aber auch daran, daß es seinen Sinn erst dann erfüllt, wenn der Erlöser nicht nur zur Menschheit im Ganzen, son­dern auch zu jedem Menschen im Besonderen kommt: in dessen Freuden und Nöte, Einsichten, Ratlosigkeiten und Versuchungen, in alles das, was sein nur ihm eige­nes Wesen und Leben ausmacht. Er soll inne werden: Christus ist mein Erlöser; Jener, der mich bis in mein Eigenstes kennt, mein Schicksal in seine Liebe nimmt, mir den Geist erhellt, das Herz berührt und den Willen zum Rechten wendet.

So ist der Advent die Zeit, die mahnt, daß wir uns fra­gen, jeder in sein Gewissen hinein: Ist Er zu mir gekom­men? Weiß ich um Ihn? Ist Vertrauen zwischen Ihm und mir? Ist Er mir Lehrer und Meister? Daraus aber sofort die weitere Frage: Steht in meinem Innern die Türe für Ihn offen? Und der Entschluß: Ich will sie auftun.

Wie könnte das geschehen? Wir wollen ins Ganz-Praktische gehen: was könnten wir tun? Vor allein uns bemühen, etwas von Ihm zu erfah­ren. Wir könnten uns ein Buch nehmen, das von Ihm spricht, und darin lesen, an jedem Tag dieser Wochen, die zum Weihnachtsfest führen. Aber nicht so lesen, wie wir es tun, um uns über irgendetwas zu unterrichten, sondern mit offenem Herzen, im Verlangen des Geistes. So lesen, daß uns aus den Worten die lebendige Wahr­heit entgegenkommen könne; in der Weise, die Augu­stinus meint, wenn er in seinen »Bekenntnissen« er­zählt, wie er an die Schriften Plotins gekommen und ihm daraus die Geistigkeit Gottes aufgegangen sei. »Und ich vernahm«, sagte er, »wie man mit dem Herzen ver­nimmt.« Der ganze Augustinus ist in dem Wort — aber auch der Mensch überhaupt; denn wenn ein Großer aus seinem Eigensten redet, dann redet in ihm das Wesen Aller. »Und«, sagte er weiter, »keine Möglichkeit war mehr, zu zweifeln.« (Conf. 7,10) So soll uns Jesus Chri­stus klar werden; »einleuchten«, wie das schöne Wort sagt; sein Wesen, sein Tun und sein Schicksal.

Damit das aber geschehen könne, ist mehr nötig, als bloßes Lesen und Denken. So unerläßlich das sein mag, es genügt nicht. Denn was da erkennen soll, ist tiefer als der natürliche Geist; tiefer als das Herz, das die Ge­burt uns gegeben hat. Es ist der neue Mensch in uns, der »aus Gott geboren« ist und ins ewige Leben wächst (Joh 1,13). So sagt Augustinus, wo es um die Wahrheit gehe, gebe es wohl den »magister exterius docens, den Meister, der von außen her lehrt«: also den Menschen, der zu uns spricht, oder das Buch, das wir lesen. Deren Worte bleiben aber äußerlich, so lange der »magister interius docens, der von innen her lehrende Meister« nicht redet. Der aber ist Gott.

Es genügt also nicht, nur zu lesen und zu denken; wir müssen auch beten. Einer kann die Texte des Alten und Neuen Testamentes im Kopf haben, mit dem Stand der Leben-Jesu-Forschung vertraut sein und doch das Eigentliche nicht wissen. Wir müssen bitten, Der, der allein vom lebendigen Christus weiß, der 1 [eilige Geist, möge wirken, daß die heilige Gestalt des Herrn uns ein­leuchte. Daß uns geschehe, was Johannes meint, wenn er sagt: »Wir haben seine Herrlichkeit geschaut, eine Herrlichkeit als des Eingeborenen vom Vater, voll Gnade und Wahrheit.« (1, 1 4) »Epiphanie«, nicht nur des Gei­stes, sondern auch des Herzens. Das Aufgehen der Augen und das Berührtwerden des Gemütes in Einem.

Dann kommt die Gestalt Christi aus dem bloßen Gere­det-sein heraus. Er wird wirklich, wird nahe, und zwi­schen ihm und uns entsteht jene Verbundenheit, welche Gehorsam, Treue, Vertrauen, Einvernehmen ist und »Glaube« heißt. Wirklicher Glaube, nicht bloßes »Für­wahr-halten«. Letzteres ist die äußere Ordnung; wirk­licher Glaube aber ist die Klarheit im Geiste, das Be­rührtsein im Herzen, das lebendige Bewußtsein der hei­ligen Wirklichkeit. Das kann nur Gott geben, aber wir müssen Ihn darum bitten. Das wäre das Zweite, das wir im Advent tun können.

Ich glaube aber, wir müssen noch ein Drittes hinzu­nehmen, nämlich daß wir die Liebe üben. Man kann Christus nicht so erkennen, wie man irgendeinen Men­schen der Geschichte erkennt, sondern nur aus jener inne­ren Tiefe heraus, die in der Liebe wach wird.

Vielleicht wendet man ein: Was sagst du da? Man könne Christus nur erkennen, wenn man Ihn liebe — wie soll ich Ihn aber lieben, wenn ich noch nichts von Ihm weiß? Das ist richtig — obwohl die Liebe ja viele Stufen hat, und schon im ersten Suchen Liebe sein kann, indem sie mehr ist, als bloßes Wissen-Wollen. Aber lassen wir das auf sich beruhen, und denken wir daran, daß es Liebe zu Christus ist, wenn wir seine Brüder lieben. Johan­nes sagt in seinem ersten Brief: »Denn wer seinen Bru­der nicht liebt, den er sieht, kann Gott nicht lieben, den er nicht sieht.« (4,20)

Also wollen wir in diesen Tagen die Liebe üben, damit uns die Augen für Christus aufgehen. Wollen es dort tun, wo wir stehen, an den Menschen, mit denen wir leben: ihnen das Recht geben, zu sein, wie sie sind; sie immer aufs neue annehmen und in Freundlichkeit mit ihnen auskommen … Von diesem nächstem Bereich um uns her, unserer Familie, unserer Freundschaft, unse­rem Beruf breitet sich die Liebe dann zu denen aus, die ferner sind —je nach der Weise, wie das Leben ihr Wesen und ihre Not an uns heranträgt.

Diese drei Dinge gehören zusammen. Zuerst das Suchen und Denken und Lesen, damit unser Wissen von Chri­stus reicher werde. Denn fragen wir uns doch einmal in Ehrlichkeit: Was lese ich alles im Laufe einer Woche? Wie viel davon ist überflüssig? Wie viel nichtsnutzig? Und wie viel Zeit wende ich an Bücher, die vom Wich­tigsten sprechen? Wenn wir ernstlich fragen und ehr­lich antworten, werden- wir uns wahrscheinlich schä­men.

Das Zweite ist, daß wir Gott bitten, Er möge uns erleuchten. Dazu genügen die einfachsten Worte. Wollen wir aber Texte voll göttlicher Kraft, dann stehen sie zu Gebote; denken wir nur an die beiden herrlichen Hym­nen »Veni Creator Spiritus: Komm, Schöpfer Geist« und »Veni Sancte Spiritus: Komm, o Geist der Heiligkeit«, die beide im Meßbuch stehen.

Das Dritte ist, daß wir der Erleuchtung den Weg öff­nen, indem wir die Liebe üben. Nicht in bloßen Wor­ten, sondern im Ernst; nicht in Gefühlen, sondern ins Tun.

Wirklicher Advent entsteht aus dem Innern. Aus dem Innern des glaubenden Menschenherzens und, nein vor allem, aus der Tiefe von Gottes Liebe. Aber wir müs­sen Seiner Liebe den Weg bereiten. Nicht umsonst er­scheint im Evangelium der Messe vom vierten Advents­sonntag die Gestalt des Vorläufers, und die »Stimme eines Rufers in der Wüste« ertönt: »Bereitet den Weg des Herrn, macht gerade seine Pfade! Jedes Tal soll ausgefüllt, und jeder Berg und Hügel soll abgetragen werden. Was krumm ist, soll gerade, und die unebenen Wege sollen eben werden. Und alles Fleisch wird schauen Gottes Heil.« (Lk 3,4-6)