Predigt zu Pfingsten
Als Lehre aus der gegenwärtigen Krise solle die Kirche sich nicht so sehr um sich selbst sorgen, sondern sich eher fragen, für wen sie da sei — so der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz. Nun scheint mir auch die Frage, für wen ich als Kirche da sein soll, eine Art der Sorge um mich selbst zu sein, aber wie auch immer: Die Situation, in der wir leben, als auch das Pfingstfest, das gelegentlich als Geburtstag der Kirche bezeichnet wird, rufen uns in Erinnerung, dass wir als Kirche einen Auftrag haben, aber welchen? Wozu gibt es uns, da uns die Mehrheit entweder verachtet, gleichgültig links liegen lässt oder bestenfalls als Ritual-Manager — aber bitte auf hohem Niveau! — betrachtet? Damals war es ein kleines Grüppchen, das — vom Heiligen Geist erfüllt — Gottes große Taten verkündete, und Menschen aus den unterschiedlichsten Regionen hörten zu (Apg 2,1-11). Und heute?
Immer wieder aufs Neue fasziniert mich das Bild, das der Apostel Paulus wählt: Wie der Leib einer ist und doch viele Glieder hat, so ist es auch mit Christus. So wie jedes Glied am Leib eine Aufgabe, eine Befähigung hat und im Ganzen unverzichtbar ist, so ist jeder Christ mit seinen Talenten, mit seiner Prägung unverzichtbar: so verwirklicht sich Einheit in Christus und Einheit untereinander (1 Kor 12,12-13). Als ein Werkzeug der Einheit mit Gott und untereinander bezeichnet auch das Zweite Vatikanische Konzil die Kirche (Dogmatische Konstitution über die Kirche „Lumen Gentium“, Abschn. 1). Hier steigt wahrscheinlich der kritische Zeitgenosse aus. Wenn ich was mit Gott zu tun haben will, dann brauche ich dazu gewiss keine Kirche! Ich brauche für diese Einheit — oder sagen wir vorsichtig: Nähe doch kein Werkzeug, das man mir gewissermaßen aufnötigt, und dass durch den Verlauf der Geschichte sich als beschädigt und beschmutzt erwiesen hat. So könnte man vielleicht die gängigen Vorwürfe zusammenfassen. Weichen wir ihnen nicht aus, sondern stellen wir uns ihnen. Auch die Apostel bekamen Gegenwind, der weitere Verlauf der Apostelgeschichte zeigt es. Es braucht also kein Werkzeug der Einheit? Ich glaube, das Leben widerlegt diese Annahme tagtäglich. Wenn Menschen zueinander finden, wenn Menschen eine Freundschaft entwickeln, gibt es immer dieses Werkzeug der Einheit, es gibt einen Raum der Begegnung, es gibt eine gemeinsame Aktivität, die Menschen einander näher bringt, beispielsweise gemeinsames Wandern oder eine andere Freizeitbeschäftigung oder man lernt sich bei einem Volkshochschulkurs kennen, bei dem man über dieselben Mühen ins Gespräch kommt usw. Wenn zwischen Menschen Nähe wächst, aus der eine Freundschaft oder gar eine Partnerschaft entsteht, gibt es immer das Werkzeug der Einheit, einen Raum der Begegnung, eine gemeinsame Aktivität, bei der man sich nicht nur begegnet, sondern den anderen mit seinen Stärken und Schwächen kennen lernt. Anders geht es nicht.
Nun baut sich hier der klassische Einwand schon fast von allein auf, dieser Raum der Begegnung müsse doch nicht Kirche sein, man könne auch im Wald beten. Abgesehen davon, dass mein Eindruck doch ist, dass im Wald weitaus mehr Fitness-Sucher als Gottsucher unterwegs sind, gebe ich zu bedenken, dass ich dieses Werkzeug, diesen Raum der Einheit nie einfach selbst wählen kann. Gewiss ich kann unter Menschen gehen, den erwähnten Volkshochschulkurs tatsächlich belegen, um Menschen kennen zu lernen, aber ob das geschieht, ob Freundschaft, ob eine tiefere Einheit wächst, das kann ich nicht einfach machen. Da braucht es noch etwas anderes, man mag es die Gunst der Stunde nennen oder wie auch immer: dass ich wirklich dem anderen begegne, dass man offen füreinander ist usw. Nicht ich mache schlicht den Raum der Begegnung, in dem Miteinander wächst, ich finde ihn vielleicht — oder eher findet er mich.
Das menschliche Miteinander lehrt uns also, dass es ein Werkzeug der Einheit braucht, einen Raum der Begegnung, eine Aktivität, damit ein echtes Miteinander, damit Einheit wachsen kann. Und dieses Werkzeug der Einheit kann ich nicht einfach wählen, es muss mir — bei allem was ich tun kann, um Gemeinschaft zu suchen — eben doch zufallen, gegeben sein. Um wieviel mehr gilt das für Gott! Er ist es, der mich wählt, er ist es, der den Raum der Begegnung, das Werkzeug der Einheit schafft, nicht ich kann Gott sozusagen freilegen, er ist es, der mir begegnet. Der Heilige Geist ergreift die Jünger, erschüttert, verwandelt und sendet sie, damit sie aus den verschlossenen Räumen heraustreten und den Menschen die großen Taten Gottes künden. Zweifellos ist die Kirche, dieses Werkzeug der Einheit, beschädigt und beschmutzt, um auch diesen Einwand aufzugreifen, doch das geschieht überall, wo Menschen wirken und handeln. Wer für immer „social distancing“ betreiben will, um dem zu entgehen, entkommt dennoch nicht, denn die dunklen Seiten der Menschheit sind auch in ihm.
Ja, Gott wählt mich, er schafft das Werkzeug der Einheit, das wir Kirche nennen — für manchen mag das wie eine Bedrohung seiner Freiheit klingen, aber ist das nicht vielmehr unsere große Sehnsucht? Dass ich gewählt werde, dass einer meine Nähe sucht, dass er mich liebt? Dann schafft mir der Raum der Begegnung auch den Freiraum, dem anderen entgegenzugehen und seine Zuneigung zu ergreifen — wenn ich das will. Das ist unsere Aufgabe als Kirche: in all unserer Gebrochenheit auf Gott zu verweisen, dass in den Begrenzungen unseres Lebens der Größere aufscheint, ohne den die Größe und Schönheit des Menschseins, die doch immer wieder aufblitzen, gar nicht denkbar wären. Freuen wir uns, dass wir so Kirche sein dürfen. Gerade jetzt, gerade heute! Mäkeln wir nicht immer, was nicht passt, gerade jetzt, da wir nur unter Auflagen miteinander feiern dürfen! Freuen wir uns doch vielmehr, dass wir Kirche sein dürfen!
Kirche sind wir, weil wir einen Auftrag haben: Werkzeug der Einheit mit Gott zu sein. Das menschliche Miteinander zeigt uns, dass es ein solches braucht und dass dieses auch nicht einfach selbst gewählt sein kann. Um wievielt mehr gilt das für Gott! Er wählt uns, sendet uns als Zeugen der Größe und Schönheit des Menschen-Daseins, die doch nur aus dem begrenzten irdischen Sein nicht erklärbar sind. Freuen wir uns, dass wir Kirche sein dürfen!
Pfarrer Marc Grießer, Seelsorgeeinheit Alpenblick
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