Erntedank
»Nie hat eine Zivilisation ihre Lebensbedingungen weniger verstanden als unsere eigene.« Dieser Satz des Philosophen Hermann Lübbe gibt mir zu denken. Stimmt das so? Wir können doch heute schneller und mehr Wissen und Information abrufen als je zuvor.
Dank des Internets wird uns Einblick gewährt in unsere Welt, von der frühere Generationen nicht einmal zu träumen wagten. Und doch stimmt es, niemand kann heute allein alles überschauen. Den Universalgelehrten gibt es nicht mehr. Unsere Welt ist zu komplex dafür geworden.
Nehmen Sie nur ein simples Brot, das Sie vielleicht gerade vor sich auf dem Tisch liegen haben. Kennen Sie alle Menschen und Abläufe bis ins Detail, ehe sie das Brot gekauft und mit sich nach Hause genommen haben?
Der Bauer von früher dagegen hat alles selber gemacht: Aussaat und Ernte, Korn mahlen, Brot backen. Alles, was zu wissen nötig war, damit das Getreide auf dem Feld zum Brot auf dem Tisch wird, konnte er beim Namen nennen.
Einzig von der Natur war der Bauer von früher abhängig. Dass sie alles gab, was für die Ernte nötig war, schrieb er Gott zu. Dafür war er Gott dankbar. Das war sein Erntedank.
Auch wir sind abhängig von der Natur. Vielleicht nicht in gleichem Masse wie früher, aber gegen die Gewalten der Natur – das haben wir im Sommer in D erfahren – sind auch wir nicht gewachsen. Vielleicht sind wir sogar noch abhängiger als der Bauer von früher: Wir sind abhängig nicht nur von der Natur, sondern wir sind auch noch in nie gekanntem Ausmaß abhängig voneinander. Bis wir das Brot im Supermarkt oder beim Bäcker kaufen konnten, waren Hunderte Menschen nötig. Viele mussten zuverlässig ihre Arbeit tun.
So danken wir heute nicht nur Gott, sondern auch einander – auch den vielen Namenlosen und Unsichtbaren, die es uns ermöglichen, dass wir gut leben können.
Ist es nicht ein großes Wunder, dass alle Abläufe so zuverlässig ablaufen, dass wir jeden Tag mehr haben als wir zum Leben brauchen. Die Versorgungskette funktioniert – auch unter den Bedingungen von Lockdown usw.
Und wenn es dann manchmal doch nicht ganz so klappt, wie wir es uns vorstellen, wenn manchmal Fehler passieren, dann sollten wir die Blickrichtung umzudrehen und die Empörung über Fehler durch das Staunen zu ersetzen denn es ist ein Wunder, dass unsere so komplizierte Gesellschaft so gut funktioniert. Alle, die daran beteiligt sind, verdienen unseren Dank.
Und Gott danken wir dafür, dass er uns so viel Phantasie und Kreativität gegeben hat, unsere moderne Gesellschaft zu gestalten, in der das Leben in vielem leichter und angenehmer ist.
Zu Beginn hatte ich den Philosophen Hermann Lübbe zitiert: »Nie hat eine Zivilisation ihre Lebensbedingungen weniger verstanden als unsere eigene.« und er fährt fort: »In einer solchen Welt lässt sich nur leben durch Vertrauen.« Zum Vertrauen soll uns unser Erntedank – Dank für die Schöpfung, Dank füreinander – führen. Nur im Vertrauen aufeinander, im Wissen, was wir einander ver-danken, werden wir die großen Bedrohungen unserer Zeit bestehen können.
Gott ist der Urgrund alles Guten. Aus seiner Hand geht alles hervor, die Schöpfung und wir Menschen mit all unseren verschiedenen Begabungen. So ist Ernte-Dank am Ende immer Gottesdienst und Menschendienst.
Pfarrer Reinhold Sahner
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