Sonntagsgedanken, 19. Juli 2020


Sonntagsgedanken zum 19.7. (16. Sonntag im Jahreskreis; Weish 12, 13.16–19; Mt 13, 24–30)

Von einem Kommunikationskurs, den wir als Priesteramtskandidaten zu besuchen hatten, ist mir vor allem ein Rat geblieben. Man soll nicht „aber“ sagen, sondern „gleichzeitig“, denn durch das „Aber“ werde der erste Teil des Satzes entwertet. Diesen Rat hätte vielleicht auch der Autor des alttestamentlichen Buches der Weisheit beherzigen sollen. Einerseits sagt er — in sehr nachvollziehbarer Weise, wie ich finde —, dass Gott seine Stärke und Gerechtigkeit nicht beweisen muss, eben weil er wirklich stark ist, doch dann scheint er „aber“ zu sagen, denn Gott beweist seine Macht dann doch, indem er die Widerspenstigen bestraft. Auch wenn wir das Gleichnis hinzunehmen, das Jesus erzählt, ergibt sich auf den ersten Blick ein etwas hilfloses Gottesbild in diesen Texten. Einerseits ist Gott der Milde, Geduldige, andererseits straft er doch die Ungehorsamen. Es klingt ein wenig, als wolle man das Bild eines mächtigen, richtenden Gottes aufrechterhalten, obwohl die Welt ein anderes Zeugnis ablegt: das Böse, das Lebensfeindliche wächst — und Gott schweigt. Wie ist Gott nun? Mächtig, richtend — oder doch eher geduldig … schweigend … abwesend … vielleicht gibt es ihn gar nicht?
Was wir mit Blick auf das Gottesbild möglicherweise als widersprüchlich erfahren, ist in uns Menschen ganz selbstverständlich vereint. Manchmal zeigen wir einem anderen gegenüber Geduld, erkennen an, dass der andere noch Zeit braucht, sich einzugewöhnen, etwas Neues zu lernen beispielsweise. Manchmal schonen wir einen anderen, weil wir denken, es war nur ein Ausrutscher. Er lernt mehr aus der Vergebung als aus einer Strafe, die ihn nur verbittern oder verhärten würde. Und ganz selbstverständlich erwarten wir, dass man auch uns gegenüber so handelt — oder wir hoffen es wenigstens. Gelegentlich allerdings müssen wir eine Entscheidung treffen, die auch andere betrifft. Ich sage bewusst nicht „richten“ oder „strafen“, da das zu sehr nach Justiz klingt und auch unterstellt, dass wir dem anderen gegenüber eine herausgehobene Position einnehmen, was im beruflichen Bereich stimmen mag, aber nicht im zwischenmenschlichen. Darum sage ich „Entscheidung“. Entscheidungen treffen, die auch andere be-treffen — das müssen wir. Ich entscheide mich, einem anderen nicht länger etwas vorzuspielen, sondern ihm zu zeigen, wie sehr er mich verletzt hat. Geduld, Milde und Entscheidungen: die Beispiele zeigen, dass wir all das in unserem Leben und Handeln vereinen. Wenn wir durch unser Leben bezeugen, dass diese Haltungen irgendwie zusammengehen, warum soll das nicht auch für Gott gelten?
Gewiss gehen diese Haltungen in unserem Leben zusammen, aber allzu oft in widersprüchlicher und nicht durchdachter Weise. Mancher fordert sich selbst gegenüber immer Geduld ein, zeigt sie aber nie anderen gegenüber. Manchen, den man sympathisch findet, behandelt man milder und schonender als einen anderen, den man nicht leiden kann. Wenn Geduld, Milde und Entscheidung in Gott zusammengehen, muss das anders geschehen. Haben sie nicht doch eine gemeinsame Wurzel? Irgendetwas, das sie aufeinander bezieht, vielleicht gar eine innere Verwandtschaft erkennen lässt? Letztlich sind sie — so scheint es mir — Ausdruck einer wohlwollenden Zuwendung zum Menschen. Bei Milde und Geduld mag das schneller einleuchten, aber bei einer Entscheidung? Die vielleicht auch schmerzlich für den anderen ist? Ja, gerade auch da. Eine Freundschaft und Partnerschaft, die sich immer um Entscheidungen herummogelt, nimmt sich nicht ernst. Es kann ja auch die Entscheidung für den Freund sein, aber auch eine schmerzhafte, indem ich eine Verletzung nicht mehr verberge, so aber dem anderen erst die Möglichkeit gebe zu sehen, was passiert ist, und sich dann gegebenenfalls auch zu entschuldigen. Eben das ist die Kunst der wohlwollenden Zuwendung zum Menschen: zu erkennen, wann ein anderer Geduld braucht und wann ich entscheiden muss, eine Grenze zu setzen — um meinetwillen und um des anderen willen. Letztlich beruhen auch Geduld und Milde — bewusst oder unbewusst — auf einer Entscheidung, wie ich dem anderen begegne.
Was im Gottesbild zunächst als widersprüchlich erscheinen kann — die Geduld und Milde auf der einen Seite, das Entscheiden und Richten auf der anderen Seite —, wird uns durch das Leben als im tiefsten Sinne zusammengehörig bezeugt. Auch das Entscheiden ist idealerweise Ausdruck einer wohlwollenden Zuwendung zum Menschen. Auch Gottes Entscheidung über uns Menschen ist nicht ein Aburteilen, ein Wegsperren um der Sühne willen, sondern ein Offenlegen, ein Helfen durch die Wahrheit— in Anlehnung an ein Wort Romano Guardinis —, auch wenn das nicht nur angenehm ist. Ein Heilungsprozess ist immer auch eine Last.
Mögen uns auch diese Haltungen, die uns in den erwähnten biblischen Texten begegnen, bei genauerer Betrachtung als durchaus zusammengehörig erscheinen, so wirkt doch als Stachel im Fleisch unsere Unfähigkeit zu dieser Kunst der wohlwollenden Zuwendung zum Menschen. Wir machen die Erfahrung, dass wir falsch entscheiden, weil wir geduldig sind statt zu entscheiden oder umgekehrt, und zugleich die beschämende Erfahrung, oft genug schlicht den bequemen Weg gegangen zu sein. Ich kann an dieser Stelle keinen Trick, keine Technik anbieten, dies zu ändern, nur einen kleinen Anstoß zum Wechsel des Blickwinkels. Wenn ich an Gott glaube, darf und muss ich nicht die letzte Entscheidung über einen Menschen fällen. Das ist Entlastung und Grenze zugleich. Ich weiß, dass bei allem Mühen und Wägen der Argumente Gott allein ihm gerecht werden kann. Diese Einsicht ist auch Grenze, denn in keiner Entscheidung darf ich mir anmaßen, endgültig zu sein. Es darf und muss etwas offen bleiben. Wo der Mensch Gott verneint und sich selbst — bewusst oder unbewusst — zum letzten Richter aufschwingt, wird er zerstörerisch.
Auf den ersten Blick schien das Gottesbild, das uns begegnet ist, beinahe widersprüchlich, so als wolle man das Bild eines starken, richtenden Gottes bewahren, muss dann aber auch Geduld hinzufügen, da die Welt ganz offensichtlich ihre eigenen Wege geht. Doch unser eigenes Leben bezeugt uns, dass Milde, Geduld und Entscheidungen zusammengehören. Sie haben eine gemeinsame Wurzel: die wohlwollende Zuwendung zum Menschen. Es ist die Kunst dieser Zuwendung zu entscheiden, wann ein anderer Geduld braucht und wann ich entscheiden muss, eine Grenze zu setzen — um meinetwillen und um des anderen willen. Gottes Entscheidung über den Menschen ist nicht ein Wegsperren oder Aburteilen, sondern ein Offenlegen, ein Helfen durch die Wahrheit. Er ist der letzte Richter, das ist für uns Entlastung und Grenze zugleich.

Pfr. Marc Grießer


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