Sonntagsgedanken, 16. August 2020


Nachdruck einer Veröffentlichung von Prof. em. Dr. phil. habil. Berthold Wald in:

„Die Tagespost – Katholische Zeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur“

www.die-tagespost.de

Mit freundlicher Genehmigung des Authors und der Tagespost.

 


Was ist das Gute?

Was ist das Gute? Diese Frage dürfte schwerer zu beantworten sein als die Frage „Was ist Wahrheit?“ Auch hier gibt es zwei entgegengesetzte Auffassungen, die noch weiter in kaum vereinbaren Ausprägungen differieren. Für die eine ist das Sein die Grundlage des Guten und damit die Frage nach dem sittlich Guten in analoger Weise nachgeordnet wie die Frage nach der Wahrheit von Aussagen. Für die andere liegt die Quelle des sittlich Guten in der Autonomie der praktischen Vernunft; das Sein ist nur Anwendungsbereich, aber nicht Quelle der Normativität. Josef Pieper hat dazu mit seiner Schrift „Die Wirklichkeit und das Gute“ (1929) von Thomas von Aquin her Position bezogen und notwendige, heute wieder aktuelle Klärungen vorgelegt, später dann in seinen Bonner Vorlesungen „Über das Gute und das Böse“ (1949). Zunächst: „Alles Seiende ist gut“ – die von Thomas behauptete seinshafte Gutheit der Dinge ist nicht so zu verstehen, „dass da Dinge sind, die (zunächst einmal) etwas Bestimmtes sind – Baum oder Kristall oder Blume –, und dann außerdem und zusätzlich auch noch gut (etwa aufgrund einer besonderen Schönheit, Nützlichkeit, Tauglichkeit als Baum, Kristall oder Blume!). – Nicht durch ihr Blume-Sein oder Baum-Sein oder Kristall-Sein sind die Dinge gut, sondern durch ihr Wirklichsein.“ „Es ist das Wirklichsein der Dinge selbst, das gewollt, bejaht, geliebt ist“. Auf den solchermaßen erst von der Kreatürlichkeit des Seins her erschlossenen vollen Sinn des Gutseins der Dinge bezieht sich der ethische Grundsatz: „Alles Sollen gründet im Sein. Die Wirklichkeit ist das Fundament des Ethischen. Das Gute ist das Wirklichkeitsgemäße. Wer das Gute wissen und tun will, der muss seinen Blick richten auf die gegenständliche Seinswelt. Nicht auf die eigene ‚Gesinnung‘, nicht auf das ‚Gewissen‘, nicht auf ‚die Werte‘, nicht auf eigenmächtig gesetzte ‚Ideale‘ und ‚Vorbilder‘. Er muss absehen von seinem eigenen Akt und hinblicken auf die Wirklichkeit.“ Die praktische Vernunft und das sittliche Wollen und Handeln haben nicht selbst das erste Wort. Richtig und gut sind sie allein als Antwort auf den Anruf, der mit dem Sein selbst gegeben ist. Blicken wir von hier aus auf die Gegenposition. Aussagen insbesondere über das Sein des Menschen sind, wie man heute auch von Kirchenvertretern hört, den Humanwissenschaften zu überlassen, während die praktische Vernunft von dorther und mit Bezug auf ein geschichtlich verändertes Selbstverständnis des Menschen autonom darüber zu entscheiden hat, welches Tun oder Lassen als gut bzw. schlecht gelten soll. Für den „wissenschaftlich“ abgesicherten Begriff des Guten ist eine metaphysische Begründung aus der Natur des Menschen irrelevant. Ausschlaggebend ist „die faktische Erfahrung des Sittlichen“, die hinzunehmen ist als „die unmittelbar sich zeigende Besonderheit des moralisch Guten“. Die solchermaßen von einem späteren Thomas-Interpreten (Wolfgang Kluxen) vorgedachte Sicht hat nun klarerweise mehr gemein mit existentialphilosophischen und pragmatischen Auffassungen als mit der Grundlegung des sittlich Guten bei Thomas von Aquin. Es ist höchst zweideutig, die noch ausstehende Seinsvollendung als „offenes Sein“ (Kluxen) zu bezeichnen. Nicht das Sein ist offen und steht in der Definitionsmacht des Menschen, sondern die Vollendung seines Seins, die zu erreichen er auch verfehlen kann, wenn er sich gegen das mit seiner Natur vorgegebene Gute stellt. Darum ist, wie Pieper hervorhebt, „die Verwirklichung des Sittlich-Guten wesentlich Nachvollzug; sie ist das Weiterschreiten auf einem Wege, auf den gesetzt wir uns bereits vorfinden und auf dem wir uns bereits bewegen.“ Für die Grundlegung des sittlich Guten in der Gutheit des Seins bedeutet das, dass sich „die Lebenslehre als eine Folgerung aus der metaphysischen Seinslehre erweist. Und hierin eben unterscheidet sich die klassisch-abendländische Lebenslehre durchaus und radikal von fast der gesamten neuzeitlichen Ethik, deren Kennzeichen die Isolierung des Ethischen gegen das Ontische ist.“

Berthold Wald


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