Sonntagsgedanken, 15. November 2020


Zwei rechnen ab?!

„Zwei rechnen ab“— so heißt ein alter Wildwestfilm, an den ich mich dunkel erinnere, und in dieses Genre scheint auch eher zu passen, was uns das Evangelium dieses Sonntags (Mt 25,14-30) präsentiert: eine Abrechnung. In der neuen Einheitsübersetzung heißt es tatsächlich so: Der Herr, der zurückkehrt, hält Abrechnung mit seinen Dienern. Auf den ersten Blick ist das Gleichnis ja leicht zu entschlüsseln, schließlich ist die deutsche Sprache von ihm geprägt. Die Talente Silbergeld stehen für unsere Begabungen, die man seither auch Talente nennt, und Gott fordert von uns Rechenschaft, ob wir diese gebraucht und entfaltet haben. So weit, so gut. Doch wer mag sich das heutzutage noch gefallen lassen?! Sind wir nicht freie Menschen? Wie passt es zu unserer Freiheit, dass da einer mit uns abrechnet, von uns Rechenschaft verlangt?

Ich denke, wir müssen — bevor wir uns dieser Frage stellen — einen Schritt zurückgehen. Was meinen wir überhaupt mit Freiheit? Romano Guardini hat einmal gesagt: „Ein Mensch ist dann frei, wenn er ganz das ist, was er seinem Wesen nach sein soll.“ Freiheit meint im tiefsten und letzten Sinne nicht nur die Fähigkeit und die Möglichkeit, ich selbst zu sein, sondern schlicht die Tatsache, dass ich ich selbst bin. Das passt durchaus zu der biblischen Forderung, meine Talente zu entfalten. Doch selbstverständlich lässt sich diese Sicht der Dinge auch bestreiten — wie es ja heute durch Wort und Tat üblich geworden ist. Freiheit kann ja auch bedeuten, sich zu nichts zu verpflichten, alles offen zu halten.

Üblicherweise unterscheidet man zwei Pole von Freiheit: die Freiheit von etwas und die Freiheit zu etwas. Die Freiheit von Bindungen, Verpflichtungen ist die erste, die Voraussetzung der Freiheit zu etwas, also der Möglichkeit, mein Leben zu gestalten. Erstere ist auch durch die Rechtsordnung geschützt, die mir bestimmte Freiräume einräumt, in denen ich von staatlichem Eingriff frei bin, so beispielsweise durch das Recht auf Meinungsfreiheit. Nun muss ich diese Freiheit von solchen Bindungen und Eingriffen nicht dazu nutzen, etwas aus meinen Talenten zu machen, was ja auch meist Aufwand, Bindung und Engagement mit sich bringt. Zwingen kann mich dazu niemand — eben darum heißt es auch Freiheit, auch die Diener im Evangelium haben die Möglichkeit, nichts aus den Talenten zu machen, wie das Beispiel des schlechten Dieners zeigt. Aber warum ist er der schlechte Diener, warum ist es sinnvoll, meine Talente zu nutzen?

Ein ganz banaler Grund wäre, dass es den meisten Menschen auch Freude bringt, ihre Talente einzusetzen, auch wenn das manchmal anstrengend ist. Doch schauen wir genauer hin auf das, was passiert, wenn ich spüre, dass eine Verpflichtung aufgehoben ist, dass ich quasi von der Leine gelassen bin. Ich spüre mich selbst, das ist vielleicht in diesem Moment ungewöhnlich, vielleicht mache ich was Verrücktes, einfach um zu spüren: das bin ich, ich stehe nicht unter Zwang. Ich spüre mich selbst — das ist die logische Folge des Von-der-Leine-gelassen-Seins, der Freiheit. Dann liegt es doch auch nahe, sozusagen die Schätze, die in mir sind, auch zu heben, und eben das sind auch meine Talente. Wer ich bin, erfahre, ja spüre ich doch gerade, wenn ich entfalte, was in mir steckt, was vielleicht sogar kein anderer kann wie ich, oder doch niemand mit dieser Färbung und Prägung. Dass ich meine Talente nütze, liegt schon auf der Linie des Freigelassen-Seins, ist logische Folge davon. So erhält das Sich-selbst-Spüren eine Tiefe, die es auf andere Weise nicht gibt. Es ist wie bei einem großen Buffet mit vielen Speisen, ich kann mich auf alles werfen, kann alles ein bisschen probieren, bis mir am Ende schlecht ist, und ich gar nicht mehr weiß, wie was geschmeckt hat. Oder ich schaue genau hin, suche mir das aus, was ich mag, und verzehre es mit Genuss.

Wenn wir also sehen, dass zwar nicht der einzig mögliche, aber doch der sinnvolle Gebrauch der Freiheit bedeutet, seine Talente einzusetzen, dann ist das, was das Evangelium als Rechenschaft vor Gott beschreibt, gar nicht mehr so fern. „Ein Mensch ist dann frei, wenn er ganz das ist, was er seinem Wesen nach sein soll.“ Doch wann ist das soweit? Am besten kann ich meine Haltung erkennen, am meisten lerne ich über mich, wenn ich meine Position einem anderen darlegen, wenn ich mich erklären muss, und besonders vor jemandem, bei dem ich annehmen muss, dass er nicht einfach meiner Meinung ist. An einer solchen Herausforderung wachse ich und lerne mich besser kennen — so wie die Diener im Gleichnis, die dem Herrn ihre Taten schildern müssen. Es geht nicht darum, dass Gott ein böser König ist, der in Wildwest-Manier mit uns abrechnet, sondern darum, dass er mich gewissermaßen zu tieferer Einsicht zwingt, in dem er mit mir auf mein Leben schaut, ob und wie ich gelebt habe, was im Wesen und in der Logik der Freiheit liegt: meine Talente zu entfalten. Manchen mag nun die Sorge beschleichen, dass wohl kaum einer sagen kann, dass er all dies ganz genau gelebt hat. Der Blick Gottes ist ein heilender. Eben dies meint die Kirche mit dem im Deutschen etwas unglücklich so bezeichneten Fegefeuer: dass in der Begegnung mit Gott nach dem Tod Heilung geschehen kann.

Ein genaueres Hinsehen hat uns also gezeigt, dass Freiheit und die Notwendigkeit, vor Gott Rechenschaft abzulegen, doch kein Widerspruch sind. In der Logik der Freiheit liegt es, sie zu nutzen, um meine Talente zu entfalten, um immer mehr ich selbst zu sein. Freiheit ist zuerst ein Losgelassen-Sein, aber darauf folgt doch, dass ich mich selbst spüre, und das geht umso besser, wenn ich die Schätze, die Talente in mir hebe. Ob ich das geschafft habe, sehe ich am ehesten, wenn ich mich anderen erklären muss, wenn Gott mit mir auf mein Leben schaut. Das Neue Testament bezeugt uns, dass Gottes Blick ein liebender und heilender ist.

Pfr. Marc Grießer


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