Sonntagsgedanken, 10. Oktober 2021


Der Blick Jesu

Und wieder werden wir mit dem Reichtum zur sonntäglichen Liturgie am 28. Sonntag im Jahreskreis beschenkt. Wer sich vorbereitet, wird schon seine Sätze und Stichworte gefunden haben, die ihn die Woche hindurch tragen können. Andere lassen sich im Gottesdienst überraschen und einen „An-Spruch“ nachhaltig ins Herz fallen lassen.

Ich freue mich über das schöne Tagesgebet „Herr, unser Gott, deine Gnade komme uns zuvor und begleite uns, damit wir dein Wort bewahren und immer bereit sind, das Gute zu tun.“

Am meisten jedoch freue ich mich über das Evangelium der Begegnung Jesu mit dem Mann, der ihm entgegenläuft, vor ihm niederfällt und fragt. „Was muss ich tun, um das ewige Leben zu erben?“ Jesu Antwort zur treuen Beobachtung der Gebote kennen wir, und wir wissen auch für unser eigenes Leben, dass noch eine radikalere Entscheidung hinzukommen kann.

Nun kommt ein Satz in Mk 10,21, der mich seit langem sehr beschäftigt. In der aktuellen Einheitsübersetzung steht: „Da sah ihn Jesus an und umarmte ihn“. Hier wurde ich stutzig, denn in meiner Erinnerung lautete die Stelle: „Da sah ihn Jesus an und weil er ihn liebte …“ Stimmt das mit der Umarmung? Bei sprachlichen Unsicherheiten schaue ich in anderen deutschen Bibelübersetzungen nach. In einer steht: „Jesus schaute ihn liebevoll an“.

Leider hatte ich in meiner Ausbildung nicht die Gelegenheit, die griechische oder die lateinische Sprache zu erlernen. Zu Hilfe kam mir jetzt eine Erklärung von Bischof Lettman (Münster), dass Matthäus und Lukas von der Antwort Jesu schlicht berichten, doch nur bei Markus wird dem Blick Jesu eine liebevolle Zuwendung hinzugefügt. Der griechische Text verbinde das Lieben mit dem Sehen. Dementsprechend heiße es in der ersten Fassung der Einheitsübersetzung treffender: „Da blickte ihn Jesus an und fasste Zuneigung zu ihm.“ Jesus schaut den Mann an und im Anschauen gewinnt er ihn lieb.

Dank meiner Kenntnisse der spanischen Sprache schaute ich in der lateinischen Vulgata nach und fand den Satz: „Iesus autem intuitus eum dilexit eum et dixit illi …“. Mich bewegte das Wort „intuitus“, es handelte sich also um einen intuitiven Blick, der die ganze Persönlichkeit des Mannes sofort erfasst und ihn durch-schaut.

Sofort kommen mir viele Stellen aus den Evangelien in den Sinn, wo Jesus mit den Menschen und zu den Menschen spricht und sie natürlich anschaut. Von der Art des Anschauens ist kaum die Rede, doch ich fand eine Stelle bei Mk 3. Es handelt sich um die Heilung des Mannes mit der gelähmten Hand, als die Pharisäer Jesus belauerten, ob er am Sabbat heile. „Er sah sie der Reihe nach an, voll Zorn über ihr verstocktes Herz“. In der Vulgata heißt es „Et circumspiciens eos cum ira, contristatus super caecitate cordis eorum“.

Mich beschäftigt aber nicht nur der Blick Jesu im Markusevangelium, sondern auch, dass der Mann „traurig und betrübt“ wegging. Sein Reichtum hinderte ihn zu einer spontanen Nachfolge wie Petrus bei seiner Berufung. Es gibt auch keine Hinweise auf den namenlosen Mann, ob er nicht vielleicht später doch in die engere Jüngerschaft Jesu getreten ist. In meinen Gedanken habe ich eine Verknüpfung entdeckt, die in meiner Vorstellung einen festen Platz erhalten hat.

Wann immer im Johannesevangelium (11,1-44) von der Auferweckung des Lazarus von Bethanien, Jesu Freund, berichtet wird und die Juden beim Weinen Jesu sagen: „Seht, wie lieb er ihn hatte!“ kommt mir in den Sinn, ob nicht Lazarus der namenlose reiche Mann war.

Jedenfalls kehrte Jesus mit seiner wahrscheinlich nicht kleinen Jüngerschar gerne in Bethanien bei ihm ein, war dankbar für seine Gastfreundschaft und die seiner beiden Schwestern Martha und Maria. In einer weiteren Überlegung ist bedenkenswert: An Lazarus vollzieht Jesus das große Wunder der Auferweckung vom Tode, Martha bekennt ihren Glauben an den Messias und Maria darf als erste dem Auferstandenen begegnen. Die drei Geschwister sind Jeus sehr nahe.

In apokryphen Erzählungen und Legenden sind verschiedene abenteuerliche Schicksale des außerordentlichen Geschwisterpaares in der Nachfolge Jesu zu lesen. Meine persönliche Deutung ist mir sehr zugänglich, zumal meine sehr früh verstorbene Mutter Martha hieß und ich gerne ihren Glauben an die Auferstehung teile, wie er von Martha, der Schwester des Lazarus, biblisch bezeugt ist.

Ich lade ein, das Markus-Evangelium nochmals zu durchblättern und sich vorzustellen, wie Jesus die Menschen in den Blick genommen hat. Der nur von Markus überlieferte Blick auch für uns heute ist eine große Kostbarkeit. Es ist der intuitive Blick des menschgewordenen Sohnes Gottes, mit seinem Angebot, in die Ewigkeit zu führen.

Der Mann war traurig und betrübt von Jesus weggegangen. Er konnte nicht auf Anhieb loslassen. Die uns heute eigenen Reichtümer sind sehr vielgestaltig, zumeist wissen wir genau was und wo wir loslassen sollten. Auch wir zögern oft in unseren Entscheidungen und sind „traurig und betrübt“.

Das heutige Tagesgebet ist ein zuverlässiger Wegweiser, Gott möge unserem Handeln mit seiner Gnade zuvor kommen.

 

Elisabeth Prégardier, Oberhausen

 

Quellen

Zitat: Bischof Lettmann in Kirche und Leben (Münster) vom 18. Sept. 2018. Impuls zur eucharistischen Anbetung.

Bild: Christus-Ikone von Andrej Rublëv; (1360-1430), russischer Ikonenmaler, Heiliger der östlich orthodoxen Kirche, Staatliche Tretjakow-Galerie, Moskau, Russland


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