Nicht unerwartet angesichts seines hohen Alters von 95 Jahren und doch überraschend ist der aus Deutschland stammende Papst Benedikt XVI. am 31. Dezember verstorben und am 5. Januar mit einer berührend-schlichten Trauerfeier auf dem Petersplatz in Rom aus dieser Welt verabschiedet und in der Grotte des Petersdoms beigesetzt worden. Wir sind tief berührt, dass er nicht mehr unter uns weilt und vertrauen ihn ganz in Gottes liebende Hände. Bei IHM möge er für immer leben im Frieden.
Unsere Zweite Vorsitzende, Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, durfte ihm mehrmals privatim begegnen. Wir freuen uns, dass sie uns teilhaben lässt an ihrem „persönlichen Zeugnis für Benedikt XVI.“:
Unter den mehreren Begegnungen, die ich mit dem Professor, dann Kardinal, dann Papst Benedikt hatte, ragt eine hervor: die unerwartete Ehre, im August 2011 bei den Gesprächen mit seinem Schülerkreis im Sommersitz Castel Gandolfo über Neuevangelisierung zu sprechen. Ich verband meine Erfahrungen mit der überwiegend agnostischen Hörerschar an der TU Dresden mit dem Blick auf ermutigende philosophische Entwicklungen: daß sich gerade in der Postmoderne viele Denker (wieder) des biblischen Thesaurus bedienten. Mein Thema Athen und Jerusalem war dem Papst als „Theoretiker der Vernunft“ gewidmet.
Dabei traf man in schönem, aber einfachem Rahmen von Castel Gandolfo wieder den Professor, der, noch etwas müde und gebeugt von der Weltjugendtagung in Madrid zurückgekehrt, doch wach den Vorträgen folgte und die 60köpfige Schülerschar lenkte, indem er humorvoll deren längere intellektuelle Ausflüge eindämmte und an das Thema zurückband, auch philologische und andere Spekulationen korrigierte. Es war eine heitere Stimmung der Freundschaft, aber auch unterlegt von der Atmosphäre eines universitären Seminars, wenn der Hl. Vater seine „Schüler“ zu Stellungnahmen ermunterte oder Einwände erhob. Eindrucksvoll war vor allem – wie schon mehrfach erlebt – die spürbare Einfachheit seines Auftretens. Es gab keinen „Hofstaat“, und man durfte sich in den vorgesehenen Räumen frei bewegen und den wundervollen Ausblick über den Albanersee und die bewässerten Gärten auf das im Dunst verschwimmende Rom erleben.
Am Sonntagmittag war das klassische Angelus-Gebet mit einer kurzen Ansprache des Papstes. Schon eine Stunde vorher war der Innenhof von Castel Gandolfo gesteckt voll mit Pilgern. Die Begeisterung war schon wie eine Welle spürbar, lange bevor der Papst erschien und dann mit einiger Mühe Ruhe herstellte. Man merkte, wie unbefangen und mit wie großer Freude er begrüßt wurde, und dachte beschämt an die mitteleuropäischen Medien, die eine Meisterschaft im Kleinreden gerade auch der großen und unübersehbaren Erfolge etwa beim Weltjugendtag entwickelten.
Wenn man mittlerweile den eindrucksvollen und souveränen Auftritt des Papstes in Deutschland im September 2011 verfolgt hat und ihm kurz zuvor persönlich begegnen konnte, fragt man sich, warum nicht wenige Medien sein Bild verzeichnen (wollen). Seine unübersehbare, stille Ausstrahlung, seine Tiefe und Klugheit erreichen jedenfalls Menschen mit offenen Augen.
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Wenn ich diese Begegnungen mit der ersten auf Burg Rothenfels 1976 verbinde, dann bleibt ein Gemeinsames: das Leise, zutiefst Freundliche, Gesammelte. Bei den letzten Eindrücken herrschte noch mehr vor: das Demütige. Und diese Haltung ist für einen Papst wohl das erstaunlichste. Vielleicht wirkt es eigenartig, diesen Eindruck ausgerechnet mit Goethe zu unterstreichen: „Die größten Menschen, die ich gekannt habe, und die Himmel und Erde vor ihrem Blick frei hatten, waren demütig und wußten, was sie stufenweis zu schätzen hatten.“ (Artemis Gedenkausgabe 18, 515) „Stufenweis“ heißt, eine Hierarchie der Güter zu kennen, ein Unterscheidungsvermögen für das Wichtige im Vielerlei entwickelt zu haben.
Und nochmals anders intoniert: „Alle körperlich wie geistig naturkräftig ausgestatteten Menschen sind in der Regel bescheiden.“ (Ebd., 8, 147)
Solcher Urteile bedarf der Papst nicht, aber es ist bemerkenswert, wie dieser unmittelbare Eindruck des Zurückhaltend-Demütigen häufig übersehen, vielleicht sogar unbesonnen oder absichtlich umgedreht wird. Diese Anspielung gilt den wohl dümmsten Zuschreibungen, die medial erfolgt sind, vom „Panzerkardinal“ bis zum „Rottweiler Gottes“ (eigentlich sträubt man sich, diesen Unsinn zu wiederholen). Solche Verkennungen sind eine erneute Bestätigung für Dummheit, die böse ist, oder Bosheit, die dumm ist (oder auch nur verzweifelt). Sie sind aber auch ein Anzeichen für eine Witterung, die an diesem Mann und seinem Amt etwas Unbesiegbares ahnt und daher zutreten will, mit dem Instinkt für das Verzerren und Mißverstehenwollen, das dennoch und deswegen wehtut.
Freilich stehen der Mann und sein Amt damit in einer großen Nachbarschaft. Sie deutet sich jedesmal an, wenn Zustimmung und Widerspruch aufeinandertreffen. Hans Urs von Balthasar schrieb mit beeindruckender Schärfe über den ersten Papst: „Petrus muß ja auch recht lächerlich ausgesehen haben, als er mit den Füßen nach oben gekreuzigt war; es war einfach ein guter Witz (…), und wie der eigene Saft ihm beständig in die Nase tropfte (…) Es ist sehr gut, daß hier spiegelverkehrt gekreuzigt wird; das gibt zu keinen Verwechslungen Anlaß, und trotzdem entsteht ein erinnerndes Spiegelbild des Einmaligen, Reinen, Aufrechten in den trüben Gewässern des Christlich-Allzuchristlichen. Es wird Buße getan für unvordenkliche Schuld, so lange aufgestapelt, bis das System umkippte.“
Und Balthasar spricht den ungeheuren Gedanken aus, daß das Amt in der Kirche, seit seinem ersten Vertreter, mit dem stellvertretenden Austragen von Schuld zu tun hat. „Wehe, wenn es den Punkt nicht mehr gibt, wo unser aller Sünde sich zur Schaubarkeit sammelt, so wie das im Organismus kreisende Gift sich an einer Stelle konzentriert und ausbricht als Abszeß. Und deshalb selig das Amt – ob es nun Papst oder Bischöfe sind oder einfache Priester, die standhalten, oder wer sonst sich betreffen läßt, wenn ‚die Kirche sollte’ gesagt wird -, das sich hergibt zu dieser Funktion, Herd der Krankheit zu sein.“ (Klarstellungen. Zur Prüfung der Geister, Freiburg 1971, 9)
Wem diese Aussagen zu bitter sind: Daneben stehen die Früchte dieser Bitterkeit. Sie entstammen dem unaufhörlichen Jakobskampf, ohne den das alte und neue Israel nicht zu denken sind. Dieses Ineinander von Herausforderung und Segen, von Widerstand und Sieg, von Nacht und schließlichem Sonnenaufgang ist eine Botschaft vom Wesen Gottes und vom Wesen des Erwählten. Gottes Macht kommt nicht zerbrechend. Sie fordert ein Äußerstes an Kraft, ein optimum virtutis, aber sie überwältigt nicht. In der Gestalt des Widerstandes will sie sogar als Liebe erfaßt werden. Was als Widerstand und scheinbare Gegenmacht kommt, kommt – wenn der gute Kampf gekämpft ist – als Segen. Und so ist an der leisen und verwundbaren Gestalt des Papstes etwas Stählernes und Unerreichbares. Gerade seine vorab als Mißerfolg gestempelten Auslandsreisen, etwa nach England, aber auch ins schwierige Deutschland, sind in beachtliche Siege umgeschlagen. Eine italienische Rocksängerin fand ihn „cool“. Das ist zwar ein unscharfes Modewort, trifft aber doch in die rechte Kerbe.
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Es sei verziehen, daß zum dritten mal Goethe zitiert wird; nicht um einer oberflächlichen Gemeinsamkeit willen, die es nicht geben kann, aber doch um einer Tiefenschicht willen, die sich an diesen beiden Deutschen vergleichen läßt. Das Zitat stammt aus dem großen geologischen Aufsatz Goethes über die Granitfelsen, mit welchem Bild – wie ich meine – auch etwas Symbolisches über die Wesensart Joseph Ratzingers getroffen ist: „So einsam, sage ich, wird es dem Menschen zumute, der nur den ältesten, ersten, tiefsten Gefühlen der Wahrheit seine Seele eröffnen will.“
So gilt der letzte Gedanke der Wahrheit, die über diesem Pontifikat steht. Wann zuletzt ist so unerbittlich und doch werbend der Anspruch der Vernunft von einem Papst verteidigt worden? Zugleich die Vernunfthaltigkeit des Glaubens und die seit der griechischen Antike schon bestehende Ökumene der Vernunft, die Philosophien und Theologien und Wissenschaften zusammenschließen kann? Das päpstliche Hohelied des Logos dringt genau in den „Vorhof der Heiden“ ein und hat ein Gespräch angeregt, das aus der Stagnation der postmodernen Sinnleere herausführt. Jerusalem hat mit Athen zu tun – gegenüber allen Verdikten sei es einer sektiererischen Orthodoxie auf der einen oder einer sektiererischen Wissenschaft auf der anderen Seite. „Man kann kein Seil spannen, wenn man es nur an einer Seite befestigt“, so der DDR-Dramaturg Heiner Müller im Blick auf das (scheinbar verlorene) Jenseits. (Lettre international 24, 1994) Damit erwacht mit Joseph Ratzinger die Patristik zu neuem unerwartetem Leben, die dem Logos die Unterscheidung der Geister verdankt, um in das junge Christentum die Weisheit der alten Welt einzupflanzen. So wird nicht nur die Antike und die Frühzeit der Kirche in die neue Zeit „gerettet“, es wird auch die Gegenwart gerettet aus ihrem selbstwidersprüchlichen Schulterzucken über Wahrheit. Es gibt eine Frömmigkeit des Denkens, die zugleich Bekehrung zur Wirklichkeit ist.
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Dieses Vermögen zur Klärung des Unübersichtlichen, Umstrittenen im Glauben an die Möglichkeit von Wahrheit ist schon früh angelegt und früh sichtbar geworden. Hören wir die Stimme von Ida Friederike Görres (1901-1971), der Unbestechlichen. In einem Brief vom 28. November 1968 an Paulus Gordan, den Beuroner Benediktiner, schrieb sie von dem „Kirchenkummer“, der angesichts des raschen Zusammenbruchs eines gewissen Provinzkatholizismus infolge der 68er Propaganda landauf landab zu beobachten sei. Aber, fügt sie hinzu, sie habe jetzt ihren „Propheten in Israel“ gefunden, einen ihr bisher unbekannten jungen Professor Ratzinger in Tübingen. Er könne „das theologische Gewissen der deutschen Kirche“ werden.
Ecce, unus propheta in Israel. Mit diesen Skizzen sei dafür großer, aufrichtiger Dank ausgesprochen.