Wort zum Sonntag, 22. März 2020


Die gegenwärtige Krisensituation stellt uns vor ungeahnte Herausforderungen — gerade auch als Kirche. In einer Zeit, in der Menschen uns besonders brauchen, in der vielleicht auch mehr Menschen die Grundfragen des Lebens stellen, sind wir von den Menschen abgeschnitten — zumindest auf den ersten Blick. Neue Situationen brauchen neue Wege — oder zumindest die Erkenntnis, dass schon vorhandene Wege intensiver genutzt werden müssen. Deshalb möchten wir — zumindest via Internet — einen kleinen Impuls geben, da Sonntagsgottesdienste nicht möglich sind. Vor knapp einhundert Jahren schrieb Guardini die bekannten Zeilen „Die Kirche erwacht in den Seelen.“ Seine Worte trafen die Menschen in der Krisenzeit nach dem Ersten Weltkrieg. In seiner Tradition stehend sollten auch wir jetzt nichts unversucht lassen, um Menschen zu erreichen, zu stärken — vielleicht erwacht auch heute die Kirche neu. Nicht um ihrer selbst willen, sondern um der Menschen willen.

Gott vertrauen? Ernsthaft?

Wo ist Gott? Was tut der eigentlich? Das fragt wohl mancher in der gegenwärtigen Situation. Dass Gott nicht einfach zu erkennen ist, lastet auf uns. Jesus selbst warnt im Evangelium des 4. Fastensonntags vor vorschnellen Urteilen. Dass der Mann, den er heilt, als Blinder geboren wurde, ist keine Strafe Gottes (vgl. Joh 9,2-3). Wie aber sollen wir Gott vertrauen, wenn wir ihn nicht einfach erkennen können? Ist das nicht ein heilloser Widerspruch? Zunächst muss man wohl verstehen, dass Vertrauen immer eine Brücke über einen Mangel ist. Weil ich einen anderen Menschen nicht bis ins Letzte erkennen kann, ihn nicht vorausberechnen kann, bleibt mir nur, ihm zu vertrauen — oder eben auch nicht. Der Glaubende ist wie ein Blindgeborener, der trotzdem davon überzeugt ist, dass es Licht und Farben gibt. Wie kann ein Blindgeborener vom Licht und den Farben überzeugt sein? Es gibt Menschen, die sich als verlässlich erwiesen haben und die ihm davon erzählen, und manchmal spürt er vielleicht die Wärme der Sonne auf seiner Haut und mag glauben, dass sie auch anders wahrgenommen werden kann — als Licht. Im Glauben ist es ähnlich, man bindet viele Erfahrungen, Argumente, Lebenszeugnisse zusammen, die für sich genommen vielleicht zu schwach sind, aber zusammen tragfähig genug sind, um den Glauben zu wagen. Gerade jetzt sollten wir nicht die ermutigenden Erfahrungen, die uns bisher begleitet haben, aus den Augen verlieren — und auch nicht die, die wir vielleicht gerade jetzt machen. Der heilige John Henry Newman, ein großer Denker des 19. Jahrhunderts, hat entdeckt, dass wir bei wichtigen Lebensentscheidungen — auch beim Glauben — so vorgehen. Ist es nicht so, dass wir als Glaubende manchmal sind wie der Blindgeborene, der die Wärme der Sonne auf seiner Haut spürt, auch wenn er sie nicht sieht? Je mehr ich sehe, je mehr ich erkenne, desto deutlicher wird, dass ich nie alles sehen, verstehen kann, dass auf dem Grund von allem ein Geheimnis ist, das der Ursprung von allem ist und alles ermöglicht, nicht ein Rätsel, das es zu lösen gilt, sondern ein Übermaß an Wahrheit, das ich niemals zu tragen vermag — wie es Romano Guardini einmal gesagt hat. Der Glaubende  muss – wie bei anderen Lebensentscheidungen auch – verschiedene Erfahrungen, Argumente usw. zusammenbinden, um den Glauben zu wagen. Eine solche Erfahrung scheint mir zu sein, dass unser Verstehen nie einfach an ein Ende kommt, dass auf dem Grund ein Geheimnis ist, das alles ermöglicht. Der heilige Thomas von Aquin, der große Denker des Mittelalters, würde wohl sagen: Und das nennen alle Gott.

Marc Grießer, Pfarrer

 

Gebet zum Sonntag:

Herr, unser Gott, in deinem Sohn willst Du Dich mit uns versöhnen. Stärke unseren Glauben, bewahre uns und alle, die wir lieben. Gib, dass Ostern gerade in dieser schwierigen Zeit ein Fest der Hoffnung für uns wird. Darum bitten wir durch Christus, unseren Herrn. Amen.

 


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