Sonntagsgedanken, 9. August 2020


Stellvertreterin.

Zu Edith Steins Tod am 9. August 1942

 

An der mörderischen Rassenideologie starben Edith Stein, jetzt Patronin Europas, in Auschwitz, und drei ihrer Geschwister: Rosa mit ihr, Frieda und Paul zusammen mit der Nichte Eva in Theresienstadt. Die neue Heilige mußte in der Tat zu einer Patronin Europas werden, denn ihr Leben enthält eine Antwort auf das sonst Unbeantwortbare.

Edith Stein hatte mehrere Zuhause: in Breslau das mütterliche Haus; im akademischen Leben die Universität, spezifisch die Alma mater von Göttingen und Freiburg; das dritte Zuhause wurde die Kirche und tiefer noch der Karmel.

Als Edith Stein den Karmel unter mehreren möglichen Orden wählte – hätte sie nicht viel eher Benediktinerin oder Dominikanerin werden können? -, wählte sie eine Lebensform, die ihrem wissenschaftlichen Profil kaum entsprach, die aber ihrem persönlichen Naturell entgegenkam: Sie war von der sicheren Empfindung durchdrungen, ihr sei im Karmel etwas Besonderes aufgespart. Bald wird sie begreifen, daß das Aufgesparte in der Stellvertretung, tiefer noch: im Angebot der Sühne bestehe. Um diesen Gedanken war sie schon früher gekreist, lernte ihn aber unter dem Druck der politischen Ereignisse deutlicher auf sich zu beziehen. So verdichten sich die Äußerungen bis zu einer persönlich auf sie selbst zugeschnittenen Stellvertretung, die sie schon im Namen a Cruce gewählt hatte. „Unter dem Kreuz verstand ich das Schicksal des Volkes Gottes, das sich damals schon anzukündigen begann. Ich dachte, die es verstünden, daß es das Kreuz Christi sei, die müßten es im Namen aller auf sich nehmen.“

Die Deutung der Sühne ruht auf dem großen paulinischen Gedanken auf: „Es gibt eine Berufung zum Leiden mit Christus und dadurch zum Mitwirken an seinem Erlösungswerk. Wenn wir mit dem Herrn verbunden sind, so sind wir Glieder am mystischen Leib Christi; Christus lebt in seinen Gliedern fort und leidet in ihnen fort; und das in Vereinigung mit dem Herrn ertragene Leiden ist Sein Leiden, eingestellt in das große Erlösungswerk und darin fruchtbar. Es ist ein Grundgedanke allen Ordenslebens, vor allem aber des Karmellebens, durch freiwilliges und freudiges Leiden für die Sünder einzutreten und an der Erlösung mitzuarbeiten.”

Das Leben und Sterben Edith Steins verleiht diesen alten Behauptungen Blut und Farbe. Sie wächst immer tiefer in den Gedanken hinein, sich Gott anzubieten für die Einfügung in ein unbekanntes Mosaik. Von daher ist ihr inneres Leben, so sehr es Anzeichen einer großen Freude gibt, von dem Schleier eines nahenden dunklen Geheimnisses verhüllt.

Ihr letztes mündlich überliefertes Wort am 2. August 1942 vor dem Abtransport lautete: „Komm, wir gehen für unser Volk” – dies zu Rosa gesagt, in deren Leben und Sterben sie denselben Zugriff erkennen wollte: „Ich werde mein ganzes Leben hindurch für sie [die Familie] einstehen müssen, zusammen mit meiner Schwester Rosa, die im Glauben mit mir eins ist.”

Am 9. Juni 1939 hatte sie bereits ein Testament verfaßt, noch vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Darin formulierte sie einen Schlüsselsatz: „Schon jetzt nehme ich den Tod, den Gott mir zugedacht hat, in vollkommener Unterwerfung unter Seinen heiligsten Willen mit Freuden entgegen. Ich bitte den Herrn, daß Er mein Leben und Sterben annehmen möchte zu Seiner Ehre und Verherrlichung […]” Nun folgen „insbesondere” die Bitten für Kirche und Karmel und das jüdische Volk, und darauf folgt: „für die Rettung Deutschlands und den Frieden der Welt”, schließlich noch die Bitte für die Angehörigen.

Zwei Formulierungen sind genau zu lesen: „den Tod, den Gott mir zugedacht hat” und „für die Rettung Deutschlands”. Ist in Auschwitz jemand willentlich „für Deutschland” gestorben? Ein solcher – selbst ungeheurer – Satz will bedacht sein, vor allem vereint mit einem „von Gott zugedachten Tod”.

Erinnerlich ist die erregte Debatte, die schon der Seligsprechung als „Martyrerin“ 1987 vorausging: Starb Edith Stein als Jüdin oder als Christin den Martyrertod? Es gehört zur historischen Redlichkeit zu sagen, daß sie als Jüdin abtransportiert und getötet wurde; es gehört aber ebenso zur historischen Redlichkeit zu sagen, daß sie dieses Schicksal bewußt in der Nachfolge Jesu trug. Man mag dieses Selbstverständnis ablehnen – für sie selbst läßt es sich aber nicht abstreiten. Gerade ab 1933 betonte sie die besondere Auszeichnung ihrer jüdischen Abstammung im Sinne einer Berufung zum Kreuz. Den Rassenterror der Nationalsozialisten kommentierte sie hellsichtig, er richte sich gegen die menschliche Natur Christi. Kraft dieser menschlichen Natur wußte sie sich „blutsverwandt“: „Sie glauben nicht, was es für mich bedeutet, Tochter des auserwählten Volkes zu sein, nicht nur geistig, sondern auch blutsmäßig zu Christus zu gehören.“ Daß dies Edith Steins Deutung und – mehr noch – Trost war, läßt sich am gesammelten Ernst ihrer letzten Tage abnehmen.

Die neue Patronin Europas hat durch Hingabe ihres Lebens in den Schatz des corpus mysticum „einbezahlt“. Seit ihrem Tod hat das Wort „Judenchristin“ ein neues Gewicht und ist zur tragenden Brücke zwischen lange getrennten, ja feindlichen Fronten geworden. Aber denken wir auch das Undenkbare, wenn der Name Auschwitz fällt: Es ist dort eine Frau „für Deutschland“ gestorben. Dank ihrer Proexistenz war noch im Grauen von Auschwitz Gnade wirksam. Die Nachgeborenen leben weiter und sind zur dauernden Antwort auf die Schuld der Vorfahren gezwungen – aber dieses befleckte Land ruht auch auf den Schultern großer Märtyrer. Als in Auschwitz Getötete hat sich Edith Stein in die europäische Geschichte eingetragen, als eine, die Auschwitz zu erdulden bereit war „für andere“, wird sie für Europa eine „Gesegnete“.

Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz


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Ein Vortrag von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz zu Edith Stein wurde heute aufgezeichnet und wird in Kürze als VideoBlog 0014 veröffentlicht.

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