Sonntagsgedanken
Karfreitag, 2. April 2021
Statt eigene Gedanken vorzutragen, möchte ich an diesem Karfreitag ein Gedicht unseres „Genius loci“ wiedergeben – einen „Hymnus auf das Heilige Kreuz“, den uns der bisweilen auch dichtende Pfarrer Josef Weiger hinterlassen hat.
Der Hymnus schöpft aus dem Bilderreichtum der Bibel und der Kirchenväter, kommt also gewissermaßen in einem „uralten“ Gewand daher. Dennoch spürt man Zeile für Zeile, dass da ein Mensch spricht, der vor dem Bild seines gekreuzigten Herrn das eigene Leben – in all seiner Zerbrechlichkeit und Hilflosigkeit, mit all seinen Schrecken und Verheißungen, mit all seinen Verblendungen und Hoffnungen – in dieses Geschehen hineinlegt, in dieses „Holz des Kreuzes, an dem das Heil der Welt gehangen“ (Ecce lignum Crucis, in quo salus mundi perpendit)!
Heilig Holz vom Paradiese,
Baum des Lebens, Frucht so süße,
hingepflanzt von Gottes Hand;
Zeichen seiner Macht und Größe,
Zeuge unsrer Schuld und Blöße,
ragst du auf in Menschenland.
O heilig Kreuz, o goldner Thron,
vom Kreuz herab herrscht Gottes Sohn.
Heilig Holz der Ewigkeiten,
Pfahl des Lebens wie vor Zeiten,
da an dir die Schlange hing;
Rettung aller, die vertrauen,
gläubig auf den Heiland schauen,
der ans Holz des Kreuzes ging.
O heilig Holz, o großer Lohn,
vom Kreuz herab heilt Gottes Sohn.
Heilig Holz vom Kreuzeshügel,
Mal des Heiles, Geist und Siegel,
eingeweiht von Christi Blut,
Schrecken aller bösen Geister,
aller Guten Lehr‘ und Meister,
nimmst du uns in deine Hut.
O heilig Holz, von Blut so rot,
vom Kreuz herab schreit Gottes Not.
Heilig Kreuz von Gottes Gaben,
Buch der Weisheit, aufgeschlagen,
einzusehen, Herr, von mir;
dass uns Deine Gnad erleuchte
und Dein göttlich Blut befeuchte:
Nah beim Kreuz ist nah bei Dir.
O heilig Holz, o Königsthron,
vom Kreuz herab herrscht Gottes Sohn.
Was ist die ganze Corona-Misere, was die gewaltige Aufregung um Kirchenreformen, was auch das Entsetzen über so viel Unverstand, Heuchelei, Scham und Vergehen in der Missbrauchskrise – was ist das alles angesichts dieses aufgerichteten Lebensbaums?
Wer ist vertrauenswürdig, wenn nicht der, der keine Abstriche macht an seiner gewaltlosen Liebe und seiner unendlichen Vergebungsbereitschaft?
Was richten die „bösen Geister“ unserer Zeit aus gegen einen einzigen Tropfen dieses kostbaren Blutes?
Und welche Umarmung ist stärker als die Worte und Gesten, die der sterbende Jesus vom Kreuz herab der Welt hinterlässt?
Karfreitag ist nur die eine Seite der christlichen Pascha-Liturgie, denn der Tod Jesu offenbart seine Heilkraft erst ganz am Ostermorgen.
Aber ohne Karfreitag bleibt Ostern ein allzu oberflächlicher Trost.
Denn das ist es, was wir mit Josef Weiger am Karfreitag erfahren können:
„Nah beim Kreuz ist nah bei Dir!“
Prof. Dr. Alfons Knoll
Anmerkung: Der „Hymnus auf das Heilige Kreuz“ ist auf dem Sterbebildchen von Josef Weiger (verstorben am 27. August 1966) abgedruckt. Pfarrer Msgr. Otto Baur, ehemaliger Direktor des Wilhelmsstifts, einer der frühesten Unterstützer des Freundeskreises Mooshausen e. V. und inzwischen ebenfalls von uns gegangen, hat den Text in seinem Beitrag „Die Lebenslinien von Josef Weiger“ (Brief aus Mooshausen Nr. 2, September 1997, 4–11, hier 11) abgedruckt. Diesen Hymnus, so schreibt er dazu (ebd., 10), „singe ich mit meiner Gemeinde seit eh und je zur Kreuzverehrung am Karfreitag“.
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